Frühling in der Schweiz
Gegen Abend schlenderte ich manchmal allein oder mit Frau Wanner auf die Hohe Promenade, den letzten Rest der alten Bastei, wo wir das Abendlicht die Schneeberge färben sahen. Nur selten trafen wir dort einen Spaziergänger, der wie wir, an den grünüberwachsenen Gräbern eines alten Friedhofs vorüberwandelnd, den Feierabend genoss. (…) In dem ersten Winter, wo ich noch wenige Menschen kannte, ging ich oft weite Wege allein, besonders am See entlang, der dunkel unter wogenden Nebeln starrte, und das waren glückliche Stunden ahnungsvoller Träumereien. Einige Jahre später wurde eine meiner Freundinnen auf dem Wege zur Trichterhauser Mühle überfallen und nur durch das zufällige Daherkommen eines kleinen Jungen gerettet. Dadurch wurde mir die Gefahr einsamer Spaziergänge klar, und ich verlor den Mut dazu, womit ich allerdings einen unersetzlichen Genuss aufgab.
(Ricarda Huch. Gefunden im Reclambändchen „Vom Glück des Spazierens“, Geschichten und Gedichte)
11 Kommentare
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April 15, 2024 um 3:50 PM
gkazakou
Huch, so schnell einzuschüchtern!
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April 15, 2024 um 5:11 PM
momfilou.wordpress.com
Ich bin immer allein unterwegs in Wald und Feld, mir ist noch nie so etwas passiert und ich hoffe sehr, dass das auch so bleibt!!!
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April 15, 2024 um 5:29 PM
geschichtenundmeer
Ich auch, aber ich gehe da, wo nur wenige Leute gehen. Meistens treffe ich höchstens eine Kuh, ein Reh oder einen Fuchs.
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April 15, 2024 um 8:42 PM
momfilou.wordpress.com
Auf meinen Wegen treffe ich ab und zu Hundeführer mit ihren Hunden, dann habe ich sogar manchmal nette Gespräche, weil ich Hunde mag!
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April 15, 2024 um 7:05 PM
quersatzein
Wie nah doch Genuss und Gefahr oft beieinander sind!
Schöne kleine Kurzprosa ist das.
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April 15, 2024 um 9:08 PM
karfunkelfee
Kürzlich erklärte ich einem Freund, wieso sich im Wald immer alle Fremden grüßen. Er dachte, das geschähe aus reiner Höflichkeit. Ich sagte: Neenee…. Es zeigt, dass du friedlich unterwegs bist und kein arglistiger Räuber. Es dient der gegenseitigen Sicherheit und ist besonders im Wald wichtig für ein ruhiges Gefühl.
Ricarda Huchs Angst ist keine unbegründete. Ich liebe meine langen, einsamen Waldspaziergänge und Wanderungen. Ich brauche sie mehr als meine Angst.
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April 15, 2024 um 9:49 PM
wildgans
dankbar für deinen Kommentar! Nie mehr gehe ich allein auf einsamen Wegen, seit …gerettet nur, weil zwei Spaziergängerinnen auftauchten…
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April 15, 2024 um 10:09 PM
karfunkelfee
Bei mir waren es Übergriffe im Bus, in der Stadt, auf der Kirmes…Ich hatte mehrfach sehr großes Glück…und einmal eben auch nicht. Doch auch das passierte nicht im Wald, sondern im Keller. Und meine Klassenkameradin, die meinem Sohn das Autofahren bei brachte und die zu den nettesten Menschen gehört, die ich so kenne, wurde vor zwei Jahren nur 100 m von ihrem Elternhaus entfernt, auf einem gut ausgeleuchteten Parkplatz an einer Straße überfallen und fast erwürgt. Sie hatte Glück, dass gerade Passanten vorbei kamen, die den Täter störten. Damit will ich sagen: Ricarda Huch beschreibt eine frauentypische Angst, die fast jede Frau kennt und nicht nur im Wald. Nur dumme Menschen kennen keine Angst. Meine Freiheit hinzugehen wohin ich will, lasse ich mir deswegen trotz Tätertum nicht wegnehmen. Meine Freiheit steht gegen die Unfreiheit, mich einschüchtern zu lassen. Freiheit wird nie geschenkt- immer nur genommen.
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April 15, 2024 um 11:34 PM
wildgans
Man könnte auch an Pfefferspray, Schlüsselbund und Hund denken …
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April 16, 2024 um 12:07 AM
peter bachstein
Ich kann das verstehen mit der Angst auf einsamen Wegen. Jedoch geschehen Verbrechen gegen Frauen selten in der Einsamkeit der Wälder. Meistens geschehen sie im alltäglichen Umfeld – sogar im Familien- und Bekanntenkreis.
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April 17, 2024 um 6:37 PM
Bruni | Wortbehagen
Wie einprägsam hat sie die Gefühle für einsame Spaziergänge beschrieben. Ich muß es unbedingt auch mal wieder machen…
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