Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal…Nein, wirklich nicht, sein Gedächtnis ließ ihn jämmerlich im Stich.
Es musste in der Grundschulzeit gewesen sein. Der knautschhautige Lehrer Herr Knödel ließ die Kinder zahlreiche Gedichte auswendig lernen.
Aaaaahja, nun fiel es ihm wieder ein. Es war etwas mit einem blauen Band und Frühling und Geflattere gewesen. Auf gleicher Gedankenspur folgten die mehr winterlichen Dichterworte: Markt und ….oder:Von drauß vom Walde…Vor seinen inneren Augen sah er ein kleines Mädchen aus seiner Klasse in weißer Schürze ein gar seltsames Gedicht vortragen. Auf der Stelle hatte er sich in sie verliebt, weil sie so hübschfrisch frei heraus so etwas gerufen hatte, das in ihm nachklang wie: Ich bin so knallvergnügt erwacht…
Das konnte er rausbekommen, das würde er lernen und daheim proben.Das dicke, schwere Gedichtebuch! Es war schnell gefunden. Und los ging`s.
Schon übermorgen war der Termin. Herbert, der halbirre Lebenskünstler im Rentenalter hatte ihn auf das Gesuch im „Marktrottler Boten“ aufmerksam gemacht. Da wurden für ein Casting – hatte ihm Herbert auch erklärt – ältere Leute gesucht, die in ihren Ruhestandszeiten nicht auf samtigen Sofas anfaulen wollten, sondern in einem Theaterprojekt namens „Methusalem spielt verrückt“ mitzumischen Lust hatten.
Das wäre genau sein Ding, dachte er und registrierte die leise aufkommende Aufregung.
Zum Vorsprechen dürften zwei, drei der alten Gedichte reichen.
Wenn er geahnt hätte…
In ähnlicher Weise von einer guten Freundin mobil gemacht, suchte die pensionierte Lehrerin Helga Münkers, die sonst aus alten Decken karierte Hundemäntelchen fertigte, sich in feministischen Kassandratexten zum Vorsprechen Geeignetes.
Wenn sie geahnt hätte…

Zwei Tage später radelten, spazierten, stapften oder an Rollatoren hängend flogen beinah ungefähr 23 alte Leute, mehr Frauen als Männer, ans Dorfgemeinschaftshaus.
Hier wartete Helene von Knotensief, eine stark geschminkte ehemalige Intendantin des Stadttheaters von Pudervornhagen, auf sie. In ihrer überherzlichen Art öffnete sie ihre Arme im Sinne von: Kommt alle schnell her zu mir, ich fange Euch auf!
Er, der von Herbert geschickte, wollte sich angesichts dieser Ballerinadivadame schnellstens entfernen. Es war zu spät. Ein unvermutet starker Griff um seinen Oberarm ließ ihn erstarren. Auf seinem Holzhackerhemdsärmel erblickte er Fingernägel, wie er sie noch nie gesehen hatte. Endlos lang, grünlich lackiert und oben in jedem Nagel ein winziges Ringelchen mit zierlichstem Glöckchen.
Die Diva schob ihn im Flur des Hauses in Richtung Garderobe und betraute ihn sogleich damit, die Gehstöcke und Rollatoren der anderen ordentlich dort abzustellen. Die praktisch veranlagte Helga Münkers kam ihm ungefragt zu Hilfe, was ihm sehr gefiel. Sie hatte vernünftige Kurzfingernägel und ein ermunterndes Pferdegebissgrinsen.

Und schon wieder machte er sich Gedanken um sein Gedächtnis, denn sowohl die Pedikürehände der einen als auch die Bauernfinger und das Lachen der anderen erinnerten ihn an irgendwas.
Das weitere Geschehen ließ ihm keine Zeit für Gedächtnisgräbereien.
Zuerst gab es Lockerungsübungen auf der Bühne, die allerdings der Diva schon zur Begutachtung und eventuellen Aussortierung von fürs Methusalemstück gewünschten Figurtypen dienten.
Sie sollten mit den genau abgezählten alten Küchenstühlen „Die Reise nach Jerusalem“ spielen. Das dazu gespielte, immer wieder gestoppte Musikstück war „Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit, hoooojahoooojahoho“. Es kam bald eine kreischige, quietschvergnügte Stimmung auf. Auch, weil die Hildegard ohne ihren Rollator so hoppelte.
Im Eifer rutschte Tonis Hose. Sein Runzelhintern ließ Hannelore hinter ihm mit ihrer Raucherinnenstimme lachen wie eine erkältete Hyäne.
Bei der folgenden Lockerungsübung sollten sich alle die europäische Landkarte vorstellen und sich gebürtlich einen Platz suchen.
Erstaunt sah er natürlich den Toni ganz im Süden stehen. Sizilien ungefähr.
Dann die Lotte im Osten, den Werner dicht dabei. Ostpreußen und Pommern oder so.
Und er so mittendrin, mehr westlich. Erstaunlicherweise stellte sich Helga ganz nahe. Fragend guckten sie sich an. Woher du? – Bergisch-Gladbach. Und du? – Na, Köln-Nippes.
Immer noch kam es in Wellen, jetzt wieder stark brausend. Da war doch was….
Er kam nicht drauf.
Keine Zeit. Weiter.
Endlich durften sie Gelerntes vorsprechen. Allerdings bekam jede und jeder dazu einen frischsauberen Korken, den sie zwischen die Vorderzähne nehmen mussten zum Vortragen. Sehr ungewohnt. Wenn er das gewusst hätte…
Es gab ein bisschen Gesabbere, Spuckeklümpchen tropften auf den Bühnenboden oder auf gebügelte Blusen oder Hemden. Aber angespornt durch diese ungewöhnlichen Experimentalnachmittagsstunden liefen die alten Leute zu selten gekannten Hochform auf. Letztendlich wurden alle für das einzuübende Theaterstück genommen. Er freute sich. Besonders auf die vielen Stunden mit Helga, die irgendetwas in ihm anrührte. Seit dem Tod seiner lieben Henriette hatte sich nichts mehr getan in Richtung seiner geistigen und sinnlichen Schwellkörper. Das sollte nun anders werden.
Am Abend rief er Herbert an und sagte nur einen Satz:
Du, ich danke dir, denn ich LEBE wieder!