Verzweiflung

 

Meine Verzweiflung ist mir lieber

Als die Verzückung aus der Tablette.

Jeder sein eigner Stimmungsverschieber!

Wir legen uns chemisch an die Kette

Und trachten uns pharmazeutisch zu ändern.

Wir suchen Sanftmut bei Radepur

Und bei Faustan, den Unglückabwendern,

Den Stützen von Intellekt und Kultur.

Gelingt es uns nicht, uns selber zu fassen,

So hilft uns ein winziges giftiges Ding,

Vorübergehend von uns abzulassen,

und Weltprobleme werden gering.

Es ist sehr schwer, sich abseits zu stellen

Und sich als Eigenprodukt zu verstehn

Und ohne Verzweiflung in sich die Quellen

Von Glück und Unglück springen zu sehn.

 

(Eva Strittmatter: Mondschnee liegt auf den Wiesen. Gedichte. Edition Neue Texte. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. 6. Auflage 1984)